"Er abonniert diese Magazine… Und er winkt einem beim Vorbeigehen nie zu. Irgendetwas versteckt er vorm Rest von uns." So lässt Tom Waits in seinem genialen Sprechgesang "What's he building?" einen misstrauischen Nachbarn vor düsterer Tonkulisse sinnieren. Man hört die Dielen knacken und Geräusche wie aus einem avantgardistischen Krimi-Soundtrack, während sich der Spion von nebenan zu immer wüsteren Gerüchten versteigt: "Und ich schwöre bei Gott, ich hörte jemanden tief stöhnen … Er hat eine Fräse und eine Tischsäge… Und Sie würden nicht glauben, was Mr. Sticha sah: Da ist nicht nur Gift unter dem Waschbecken versteckt, da gibt es auch genug Formaldehyd, um ein Pferd umzubringen. Was baut er da drinnen nur?"
Was Waits nicht wissen konnte, als er dieses wunderbare Mini-Drama für sein 1999er Album "Mule Variations" schrieb: In die Rolle des griesgrämigen, vom Argwohn zerfressenen Mitbewohners schlüpft heute der Staat mit seinen Geheimdiensten. Wie der Ich-Erzähler des Songs seinen Nachbarn, stellt er jeden Bürger anlasslos unter Generalverdacht. Was basteln die sich da zusammen, seine Bürger?
Mit Vorratsdatenspeicherung, mit Telefonüberwachung, mit dem Scannen von Chats und E-Mails, mit Zugriff auf Kontodaten und Flugbuchungen, durch Mitlesen bei Google, Amazon oder Facebook, durch Anzapfen von Glasfaserkabeln, Standorttracking und vieles mehr raubt er ihnen die Privatheit. Bürgerrechte hin oder her. Es gibt nichts mehr, was ein zwanghafter Sicherheitswahn nicht rechtfertigen soll.
Das ist inzwischen nicht mehr neu, klar. Muss deshalb nicht irgendwann mal Schluss damit sein? Nein. Denn worum geht es? Die durch niemanden kontrollierte Ausnutzung der heutigen technischen Möglichkeiten untergräbt unsere Demokratie. Es herrscht nicht länger das Volk, sondern ein Moloch, vor dem im Bedarfsfall jeder gläsern erscheint.
Glücklicherweise regt sich Widerstand: Schon im Juli haben mehr als 300 internationale Organisationen und Experten aus der ganzen Welt, aus den USA, Japan und Australien, aus Indien, China oder Europa die "Internationalen Grundsätze für die Anwendung der Menschenrechte in der Kommunikationsüberwachung" unterschrieben. Würden sie befolgt, wären nur noch verhältnismäßige, begründete und überwachte Zugriffe auf unsere Kommunikation möglich. Und gerade eben haben Deutschland und Brasilien eine – obgleich schon wieder abgeschwächte – UNO-Resolution gegen Spähattacken eingebracht.
"Er hat keine Freunde. Bekommt aber eine Menge Post. Ich wette, er war eine Weile im Knast. Ich habe gehört, er sei letzte Nacht auf dem Dach gewesen und habe mit einer Taschenlampe geblinkt. Und was für eine Melodie pfeift er da immer? Was baut er sich da drinnen nur zusammen? Wir haben ein Recht, das zu wissen."